Berufsorientierung

In der Hessischen Lehrerzeitung 3/2013 ist am 27. Februar 2013 der folgende Beitrag von Martina Schmerr , GEW-Hauptvorstand , Vorstandsbereich Schule erschienen :

"Die Berufsorientierung an allgemeinbildenden Schulen hat in den letzten Jahren eine erhebliche Aufwertung erfahren . Langsam setzt sich die Einsicht durch, wie wichtig der Übergang von der Schule in den Beruf für die Bildungs- und Erwerbsbiografie ist und dass eine berufliche Ausbildung – anders als vor einigen Jahrzehnten heute zum Mindeststandard gehört .

Der Wandel der Arbeitswelt und der Erwerbsformen erhöht die Notwendigkeit , den Übergang von der Schule in den Beruf konzeptionell und quantitativ weiter zu entwickeln. Der Anteil berufsorientierender Inhalte in den Lehrplänen wächst , auch die Zahl der Kooperationsverbünde zwischen Schule und Betrieben auf Landes- und regionaler Ebene. Mittlerweile geben Bundesregierung und Arbeitsagenturen wesentliche Impulse und auch Wirtschaft und Unternehmen haben die Berufsorientierung als Handlungsfeld entdeckt.

Diese Öffnung der Schule in Richtung Wirtschaft oder Arbeitsagenturen hat eine lange Tradition und zweifellos positive Effekte , birgt jedoch auch Risiken : Wenn bei einer chronischen Unterversorgung mit Ausbildungsplätzen die Erwartungen von Unternehmen und die Systemlogik der Arbeitsverwaltung zunehmend handlungsleitend für die Berufsorientierung werden, droht diese durch konjunkturelle , wirtschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Interessen vereinnahmt zu werden. So fehlt vielen der aktuellen Programme und Projekte der einst umfassende Anspruch der Arbeitswelt- und Berufsorientierung, wie er in den 70er und 80er Jahren entwickelt wurde. Berufsorientierung droht – vor allem für junge Menschen mit Benachteiligungen oder Lernschwierigkeiten – zu einem Instrument der Anpassung an die Widrigkeiten des Arbeitsmarktes zu werden, um sie bestimmten Maßnahmen oder Ausbildungsplätzen zuzuführen (1).

Der allgemeinbildende Anspruch von Arbeits- und Berufsweltorientierung , eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die Interessen der Jugendlichen geraten dadurch zunehmend aus dem Blickfeld .

Verwertbarkeitslogik oder Allgemeinbildung

Zahlreiche Kultusministerien haben in den letzten Jahren die Berufsorientierung und Fragen des Übergangs von der Schule ins Arbeitsleben gemeinsam mit der Unternehmerseite erarbeitet . Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerperspektive sind nur selten mit im Boot. Eine ähnliche Dominanz der Unternehmerseite ist übrigens im bildungspolitischen und schulpädagogischen Diskurs über ökonomische Bildung an Schulen zu verzeichnen . Wirtschafts- und Finanzverbände , Privatunternehmen , Stiftungen , Vereine und sonstige Lobbygruppen versuchen in den letzten Jahren verstärkt, die Lerninhalte in allgemeinbildenden Schulen zu beeinflussen .

Sie tun dies über kostenfreie Unterrichtsmaterialien oder auch Angebote der Berufsorientierung, zum Teil mit erheblicher öffentlicher Förderung. Mitunter wird dabei die betriebliche Mitbestimmung unterschlagen oder schlechtgeredet . Gesellschaftliche Widersprüche und unterschiedliche Interessen stören , wenn Unternehmen oder Wirtschaftswissenschaftler als exklusiver Partner von Schulen auftreten oder einen Alleinvertretungsanspruch zur Erklärung der Wirtschaft erheben . Die „ökonomische Bildung“ und die mit ihr verbundene Arbeitswelt- und Berufsorientierung werden ausgehöhlt , wenn sie ihrer persönlichkeitsbildenden , kritischen und emanzipatorischen Dimensionen entledigt werden. Berufsorientierung unter funktionalistischen , wirtschaftlichen oder technischen Vorzeichen eliminiert die Bedeutung von Lebensplanungen , Interessenlagen , Mitwirkungs - und Gestaltungsmöglichkeiten aus dem Schul - und Unterrichtsgeschehen 2):

„In der vorherrschenden Praxis arbeitet Berufs( wahl ) orientierung (…) anscheinend eher daran , dass die Lernenden ihre eigenen Wünsche und Erwartungen an Arbeit und Beruf distanziert-selbstkritisch reflektieren , revidieren und den ‚ realen ’ Verhältnissen anpassen .“ Arbeitswelt- und Berufsorientierung sind jedoch kein Anhängsel wirtschaftlicher Denkweisen , sondern Teil des allgemeinbildenden Auftrags von Schulen, der auf Demokratiefähigkeit , Teilhabe , interessengeleitetes Handeln und Solidarität zielt.

Betriebserkundung und Arbeitsweltorientierung

Auch die Betriebserkundung hat in den letzten Jahren eine Renaissance erfahren . Die einschlägigen Veröffentlichungen der letzten Jahre gingen vornehmlich von der Wirtschaft oder wirtschaftsnahen Kreisen aus. Infolgedessen ist die Betriebserkundung als Methode heute vielfach methodisch und fachlich verkürzt und einer eher betriebswirtschaftlichen Sicht unterworfen (3). Für Schulen und junge Menschen sind Einblicke in die Arbeitswelt oder in unterschiedliche Berufsbilder eine attraktive Methode, vor allem wenn es auf den Schulabschluss zugeht . Viele Großbetriebe bieten Betriebserkundungen vor allem im Rahmen des üblichen Besucherprogramms an. Hierbei handelt es sich zumeist um Betriebsbesichtigungen , die fachlich und methodisch sehr viel weniger anspruchsvoll sind als das systematische und entdeckende Lernen, das Betriebserkundungen zugrunde liegt .

Oft gleichen die Betriebsbesuche einer Werbe - und Informationsveranstaltung und präsentieren in der Regel die offizielle Unternehmersicht . Konflikte im Betrieb , Interessen von Auszubildenden oder auch Mitwirkungsrechte bleiben ausgespart . Eine Betriebserkundung unter _„ sozioökonomischer Perspektive“ öffnet hingegen auch den Blick auf die Organisation, die Hierarchie oder auf die sozialen Beziehungen im Betrieb und „ sensibilisiert für den Blick auf die Menschen in der Arbeitswelt“ (4).

Aus diesem Grund hat die gewerkschaftsübergreifende „Initiative Schule und Arbeitswelt“ ( http://schule.dgb.de ) die Betriebserkundung zu einem Themenschwerpunkt gemacht . Auf der Grundlage von zwei Fortbildungsveranstaltungen für Lehrerinnen und Lehrer von IG Metall und GEW ist in Zusammenarbeit mit Prof. Bettina Zurstrassen von der Universität Bielefeld j etzt eine Handreichung für die sozioökonomische Bildung entstanden : „Go and find out! – Die Betriebserkundungin der Arbeitswelt“. Das hier vorgelegte Konzept vertritt einen umfassenden Ansatz, bei dem über eine rein betriebswirtschaftliche oder technische Sicht auf Betriebe und Produktionsabläufe hinaus Risiken , Widersprüche , Veränderungs - und Gestaltungsmöglichkeiten sowie Fragen der Interessenvertretung behandelt werden.

Im Klartext : Jugendliche sollen sich bei Betriebserkundungen auch über die politische Dimension von Arbeit und Betrieb kundig machen können. Sie sollen sich über gesundheitliche Belastungen oder Folgen der gewandelten Erwerbsarbeit für das Privatleben informieren können. Sie sollen auch etwas über die unterschiedlichen Interessen im Betrieb erfahren und darüber , wie man eigene Interessen im späteren Berufsleben verfolgen und durchsetzen kann. Bei einer _„ offiziellen “_ Werksführung , die derlei Dimensionen nicht berücksichtigt , ließe sich dies vielleicht im Unterricht vor- und nachbereiten . Wirksamer ist es jedoch , wenn es im Rahmen von eigenen Recherchen der Jugendlichen und „ echten Begegnungen mit Beschäftigten , Betriebsräten , Vertrauensleuten oder Mitgliedern der Jugend - und Auszubildendenvertretungen geschieht . Dazu wollen die Gewerkschaften mit der Broschüre „Go and find out!“ ermuntern , die sich gleichermaßen an Lehrkräfte und Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben richtet .

Martina Schmerr , GEW-Hauptvorstand , Vorstandsbereich Schule"

(1) vgl . Klaus Kohlmeyer , Berufsorientierung als Bildungsstandard – Status quo und Entwicklungspotenziale , in: Zukunft in die Schule holen . GEW-Hauptvorstand , Bielefeld 2009, S. 65

(2) Reinhold Hedtke, Arbeitswelt und Schule. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Bildung, in: Arbeitsweltorientierung und Schule. GEW-Hauptvorstand , Bielefeld 2013, S. 43-66, S. 48

(3) Bettina Zurstrassen , Die Betriebserkundung in der Arbeitswelt, in: Go and find out! Die Betriebserkundung in der Arbeitswelt. Eine Handreichung für die sozioökonomische Bildung. GEW / IG Metall , 2013, S. 8

(4) ebenda , S. 10

Quelle am 4. April 2013: http://www.gew-hessen.de/ index.php ?id=296& tx _ ttnews [ tt _news ]=5096& cHash =051cc10f69a4ccb0f15eb647f15ea21f
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