Polytechnik

Polytechnik

Die polytechnische Bildung war das Herzstück der „ sozialistischen Bildung und Erziehung “, das für alle allgemein bildenden Schulen der kommunistischen Staaten verpflichtend war. In der DDR war die polytechnische Bildung sowohl als Bildungsprinzip als auch als Unterrichtsfach fest verankert . In Abgrenzung zur Allgemeinbildung umfasste die polytechnische Bildung naturwissenschaftlich-technische und technologisch-ökonomische Bildung , Erziehung zur gesellschaftlich nützlichen und produktiven Arbeit sowie Berufsorientierung und - lenkung in Kooperation mit sozialistischen Betrieben ( Lehrgänge , Praktika , Exkursionen ).

Die polytechnische Erziehung geht auf Karl Marx zurück , "der in der expandierenden kapitalistischen Gesellschaft die elende Lage der Proletarier beschreibt , sie ableitet aus den immanenten Gesetzlichkeiten des kapitalistischen Systems, liegt in der Verbindung von Arbeit und Schule ein systemtranszendierendes Prinzip : im Rahmen der » polytechnischen Erziehung « erfahren die Arbeiter den Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und ihrer eigenen sozialen Situation, können sich den bestehenden strukturbedingten Klassenantagonismus bewußt machen , gewinnen aber zugleich die Fähigkeiten zu entspezialisierter Tätigkeit , zu » allseitiger Disponibilität « im zu realisierenden , rational gesteuerten , von Profitinteressen nicht mehr abhängigen Produktionsprozeß . »Die Verbindung von bezahlter produktiver Arbeit , geistiger Bildung , körperlicher Übung und polytechnischer Abrichtung (technological training) wird die Arbeiterklasse weit über die höheren und mittleren Klassen heben Oberstes Prinzip ist also für Marx die Verbindung von produktiver Arbeit mit Unterricht , d. h., daß aller Unterricht in Verbindung mit produktiver Arbeit stattfindet auch die » geistige Bildung « und auch die » körperliche Übung «, also nicht nur das »technological training«. Gesellschaftliche Produktion ist für Marx das Verbindungsmittel aller Aspekte der Erziehung . Marx spricht ganz deutlich nicht von Berufsausbildung , nicht von der Ausbildung für eine spezielle Fertigkeit im Produktionsprozeß . Vielmehr geht es ihm um eine theoretische und praktische Allgemeinbildung im Sinne von » Grundlagenbildung « für alle Seiten des Produktionsprozesses . » Polytechnische Erziehung , welche die allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätze aller Produktionsprozesse mittheilt und die gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und in die Handhabung der elementarischen Instrumente aller Geschäfte ... Das total entwickelte Individuum , das die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse besitzt , hat das Teilindividuum , den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion «, abgelöst .

Für die Konzeption der Berufsausbildung in der heutigen Schule müßte die Marxsche Reflexion auf deren gesellschaftlichen Stellenwert geleistet werden ; polytechnische Erziehung hätte die Bedingungen des heutigen Produktionsprozesses transparent zu machen , der langfristig noch immer den Interessen privater Profitmaximierung unterliegt , der Schule damit die Aufgabe stellt , die Heranwachsenden für die Funktionen des entfremdeten Arbeitsprozesses auszubilden . Den durch die Schule vermittelten Prozeß ohnmächtiger Anpassung der Schüler an von kapitalistischen Interessen definierten Berufsqualifikationen aufzudecken , müßte als wesentliches Lernziel einer polytechnischen Erziehung im heutigen Unterricht begriffen werden . Daß mit dem Begriff Arbeitslehre in der bürgerlichen Pädagogik die kollektive Anpassung der Heranwachsenden an bestehende Normen und Qualifikationsmuster gemeint war, entspricht adäquat der Funktion dieser Pädagogik im kapitalistischen System." [1]
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" Eine Arbeitslehrekonzeption , die ihre Aufgabe darin sieht , einen Beitrag zur Transformation des Systems des organisierten Kapitalismus in eine emanzipierte Gesellschaft zu leisten , muß sich als politische Bildung verstehen ( vergleiche Beitrag Heinrich ). Das verlangt eine radikale Aufklärung über die ökonomisch bedingte gesellschaftliche Struktur der Bundesrepublik , ihre Herrschaftverhältnisse und deren politische Konsequenzen für die Jugendlichen als spätere Produzenten . Das bedeutet konkret die Darstellung der objektiven Lage der arbeitenden Bevölkerung . Diese ist in der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt durch die unmittelbare Abhängigkeit von den wirtschaftlichen und industriellen Unternehmen . Die Produzenten besitzen auf Art und Inhalt der Produktion , auf die Arbeitsorganisation keinen Einfluß . Das macht die Selbstbestimmung von Arbeits - und Lebensprozeß der Produzenten unmöglich und unterwirft sie einer extremen Entfremdung . Dem Arbeiter ist weitgehend jede selbständige Verantwortung genommen , er wird immer mehr zum bloßen Instrument. Er steht als atomisiertes Individuum im Produktionsprozeß , er hat sich dem System der Arbeitsbewertung , des Leistungsanreizes und der Lohnabfindung zu unterwerfen , die er nur geringfügig bestimmen kann ; er untersteht den Anordnungen direkter Vorgesetzter , die er blind auszuführen hat. » Noch immer herrscht die monarchische Betriebsverfassung . Merkmale dafür sind : die militärische Disziplin , die den Tagesablauf bestimmt und den Arbeitnehmer zum Objekt der betrieblichen Führung degradiert ; die unübersehbare Pyramide der Vorgesetzten , die den Ton bestimmt und eine menschliche Entfaltung unmöglich macht

Es gilt, diese mit dem kapitalistischen System notwendigerweise verbundenen Verhältnisse bewußt zu machen ; es gilt, die private Unterdrückung des Einzelnen als politisch-ökonomisch bedingte begreifen zu lassen , damit die Aggressionen , die bisher in der privaten Sphäre abreagiert und damit domestiziert wurden , politisch gegen die Gesellschaft mobilisiert werden . Wenn es gelingt , den Jugendlichen die Zustände , unter denen sie leben , bewußt zu machen und entdecken zu lassen , daß diese in einem komplexen Zusammenhang mit der kapitalistischen Gesellschaftsorganisation stehen , kann sich aus einem radikalen politischen Engagement ein solidarisches politisches Handeln entwickeln , das einen gesellschaftlichen Transformationsprozeß vollziehen hilft , der allein noch Hoffnung auf Rettung enthält ." [2]

[1] Christian, W.; Heinisch , F.; Markert , W. (1970): Arbeitslehre und polytechnische Bildung . In: Beck, Johannes (Hg.): Erziehung in der Klassengesellschaft . Einf . in d. Soziologie d. Erziehung . München : List (List Taschenbücher der Wissenschaft Erziehungswissenschaft , 1661), S. 184-203. S. 186/187.
[2] A.a.O ., S. 200.

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Kaminski hält die Polytechnik und Wirtschaft in der Alt-Bundesrepublik für nicht vereinbar .

" Integrierte Arbeitslehrekonzepte basieren zumeist auf einer im Verhältnis zum Inhaltsbereich " Wirtschaft " ausgewogenen technikzentrieren Sichtweise der Arbeits - und Wirtschaftswelt . Häufig verknüpft ist diese Argumentation mit der scheinbaren Praxisnähe des Technikunterrichts . Es werde im Technikunterricht mit konkreten Objekten umgegangen und das konkrete Tun sei Ausgangsbasis für viele unterrichtlicher Überlegungen und damit gäbe es eine natürliche Nähe zu " Handlungsorientierte Unterrichtskonzepten ". Dies ist deshalb eine eher vordergründige Sichtweise , weil hier eine heimliche Gleichsetzung zwischen den herrschenden Formen von Praxis und der Sinnfälligkeit didaktischer Konzepte erfolgt . Die Argumentation heißt : weil praktisch gearbeitet wird , ist solch ein Konzept per se sinnvollen und sie heißt nicht : weil praktisch gearbeitet wird , besteht lerntheoretisch ein anderer Zugang für die Reflexionen von fachlichen Aufgabenstellungen . Die scheinbar günstigere Motivationslage der Schüler für praktische Tätigkeiten legt dem oberflächlichen Betrachter nahe , dass damit auch ein größerer Lernerfolg bei Schülern automatisch eintrete . Bei der gegenwärtigen Verkopfung “ von Schule würden Schüler jedwede praktische Tätigkeit als sinnvoller ansehen , selbst dann , wenn sie im Technikunterricht nur Woche für Woche Schnittsarbeiten erledigten und Topflappen häkelten . Dies ist noch kein ausreichender Beleg für eine sinnvolle Verknüpfung von Theorie und Praxis. Die Ablehnung der Wirtschaft als Inhaltsbereich erfolgt sehr häufig aus der Unkenntnis der inhaltlichen und methodologischen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften oder der Etikettierung der Wirtschaftswissenschaften als Unternehmerwissenschaft , die nur einen eingeschränkten aufklärerischen Impetus habe , weil sie lediglich Handlungswissen für Unternehmer vorrangig liefere . Dies führt dazu , den Wirtschaftswissenschaften ihr emanzipatorisches Erkenntnispotential zu bestreiten . Dieser Vorwurf ist um so erstaunlicher , weil z.B . gerade die Geschichte der Technik zeigt , daß das Ausblenden z.B . gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge zu einer Entproblematisierung der Technik-Folgen geführt hat und die Technikfolgenproblematik damit teilweise erst geschaffen wurde .

Auch die ersten Versuche zur Umgestaltung der Polytechnischen Bildung und Erziehung sind zumeist auf der Basis der bestehenden Technikstudiengänge erfolgt mit dem Versuch , diese um einzelne ökonomische Inhalte anzureichern , aber nicht mit dem Ziel , in eine grundlegende Auseinandersetzung des Verhältnisses von Technik und Wirtschaft einzutreten . Diese Argumentation ist eher verständlich , weil die Technik einer zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnung eine andere wissenschaftliche Verankerung im System der Wissenschaften aufweist als in der Alt-Bundesrepublik . So leitet sich die Ausrichtung der Polytechnischen Bildung und Erziehung auf die materielle Produktion aus der Marx’schen Arbeitswertlehre her und ist deshalb in sich durchaus konsistent , kann aber im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung keinen Bestand haben ."

Kaminski , Hans (1991): Die Umgestaltung der Polytechnischen Bildung und Erziehung im Lichte der Erfahrungen der Entwicklung der Arbeitslehre . In: Pädagogik und Schule in Ost und West 39 (3), S. 168–169.

Ausgewählte Literaturhinweise

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• Christian, W.; Heinisch , F.; Markert , W. (1970): Arbeitslehre und polytechnische Bildung . In: Beck, Johannes (Hg.): Erziehung in der Klassengesellschaft . Einf . in d. Soziologie d. Erziehung . München : List (List Taschenbücher der Wissenschaft Erziehungswissenschaft , 1661), S. 184-203.

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